Diese eine letzte Nacht

Sie hatte es wieder getan.
Sie wollte wieder einmal nicht mehr leben. Dabei war es noch nicht mal September.
Der Auslöser für ihren Entscheid war schnell gefunden.
Es gab tausend Gründe: sie wollte nicht mehr leben.
Sie hatte Tabletten genommen. Ich weiss nicht mal welche.
Es ging ihr himmeltraurig. Sie weinte. Sie schrie. Sie kotzte.

Ich versteckte mich mit meiner kleinen Schwester unter der Bettdecke.
Hielt ihr die Ohren zu.
Meine Schwester sollte ihre Schreie nicht hören. Aber wir wussten beide, es ging um alles.
Ohne Mutter würden wir hier nicht mehr länger leben können.

Der Arzt kam. Kümmerte sich um unsere Mutter.
Die Tränen. Ihre Stimme. Ihre Verzweiflung.

Ich wusste, irgendwann würde es so nicht mehr weiter gehen. Ich war vielleicht zwölf Jahre alt.

Irgendwann kriegt man ein Gefühl für die Gefühle anderer Menschen. Man spürt genau, wie weit man gehen kann und wo man helfen muss. Als Erwachsener lernt man das in einer Ausbildung. Ich hab das schon als Kind gekonnt.

20 Jahre nach dieser Episode sitze ich an ihrem Sterbebett. Ich bin erstaunt, dass sie es so weit geschafft hat. Dass sie noch immer lebt und an ihrem Leben so festhält, obwohl sie es doch jahrelang riskiert hat. Ich sitze da und weiss ganz sicher, dass sie gehen wird. Diese Klarheit ist seh viel klarer als in meinen Kindertagen, denn ich sehe ich ihre Gesichtsfarbe, messe ihren Puls und achte auf ihre Atmung.

Als meine Mutter stirbt, bin ich traurig. Aber ich bin auch erleichtert, dass diese Angst nach fast 30 Jahren ihr Ende gefunden hat.

Lebensader

Da gibt es Menschen in meinem Umfeld, die schwer krank sind und an ihrem Leben hängen. Jeder Gedanke, jede Faser ist aufs Leben konzentriert. Und trotzdem vergeht ihr Leben langsam wie Sand in einer Sanduhr. Der geliebte Mensch nimmt rasch ab, die Haut färbt sich langsam durchsichtig, dann gelb. Der Krebs kriecht durch diesen Menschen und man hofft, er möge aufhören zu wachsen und sich nicht länger am Körper dieses Menschen zu laben.

Es gibt Menschen, die sehr alt geworden sind und in ihrer Demenz zwischen Leben und Leben und Tod und Tod schweben. Sie werden immer dünner, kleiner und zerbrechlicher und man kriegt das Gefühl, sie verschwinden langsam, aber sie sind noch da. Sie wirken wie uralte Schmetterlinge aus Seidenpapier.

Es gibt Menschen, deren Leben noch kaum begonnen hat, die als kleine Kinder sterben und man steht daneben und hat wenig Worte und erst recht keinen Trost.

Dann gibt es da Menschen, denen das Leben zu schwer geworden ist. Keine Hoffnung. Kein Sonnenaufgang, kein Lachen und kein Kuss, auf den sie sich noch freuen könnten. Und als Mensch in ihrem Umfeld beginnst du Bahngleise, Fenster im dritten Stock, Äste mit Seilen dran, Schlaftableten oder Armeewaffen zu fürchten.

Du kannst dich den Menschen öffnen und hoffen, dass sie dein Herz sehen. Trauer macht den Menschen verbittert, so sagt man. Ich denke, Trauer macht einen Menschen fassungslos und verletzlich. Der Verlust eines Menschen kehrt alles. Nichts mehr ist wie vorher. Du bleibst zurück mit deinen Erinnerungen, die du nun nicht mehr mit ihm teilen kannst.

Du hast die Wahl zu leben, sagt man. Du hast die Wahl, wie du dein Leben gestalten willst. Du kannst einen Garten bepflanzen und dich an den Rosen, den Schmetterlingen und den vielen Vögeln freuen.

Oder aber du wählst die Planierraupe, fährst alles platt und machst einen Parkplatz draus.
Du hast die Wahl.

Narbenhaut

Letzthin fragte mich jemand, im Hinblick auf diesen Blog: „Du hast soviel erlebt. Wie überlebst du das nur?“

Ich habe mir diese Frage ehrlich gesagt nie so gestellt. Oftmals war ich verwundert, dass ich gesund bin. Arbeiten kann. Liebesfähig bin.

Als Kind war das für mich anders. Ich fragte mich oft, warum mich meine Mutter nicht liebt. Nicht so liebt, wie ich es bei anderen Kindern und ihren Müttern erlebte. Mütter sind für mich eine grosse Wundertüte.

Meine Mutter war keine Bilderbuchmutter. Sie war launisch, cholerisch und oft gewalttätig gegen mich. Sie fiel oftmals in wahre Verprügelungsorgien. Es war, als müsste sie all das, was sie plagt, verjagen und schlagen. Und das war dann ich.

Es gab einen Moment in meiner Kindheit, da wollte ich nicht mehr. Ich war vielleicht zehn Jahre alt. Sie rastete aus irgendeinem Grund aus. Sie schrie, fluchte, schlug zu. Sie trat zu. Mit Vorliebe trat sie in meinen Rücken und schlug gegen den Hinterkopf – nie in mein Gesicht, so als sollte es keine offensichtlichen Spuren hinterlassen. So auch an diesem Tag.

Ich wusste, selbst als Kind, dass sie mich damit töten oder zumindest halbtot schlagen könnte. Es gab natürlich immer Gründe für sie, das zu tun. Aber ich verstand nur den Hass. Ich kauerte mich zusammen, auf dem Boden, weil ich hoffte, ihre Schläge würden mich nicht all zu sehr verletzen. Das Weinen hatte ich mir irgendwann abgewöhnt. Es schützte mich nicht vor ihren Schlägen.

Nach den Prügeln machte sie sich an mein Zimmer. Sie schlug es kurz und klein. Sie zerstörte meine Spielsachen, schmiss meine Bücher, meine Kleider und meine Plüschtiere herum. Es sah aus, als wenn eine Bombe in mein kleines Zimmer eingeschlagen hätte. Dann ging sie, mit einem Blick der Verachtung.

Ich versuchte mir an jenem Abend einen grossen Nagel ins Handgelenk zu schlagen, weil ich hoffte, ich würde vom Schmerz in meinem Herzen erlöst werden. Mir fiel in jenem Moment ein, dass ich in den Ferien zu Omi gehen wollte. Omi würde mich erwarten. Sie würde es nicht überstehen, wenn ich einfach nicht mehr da wäre. Ich entschied mich fürs Leben.

Ich zog den Nagel wieder raus und war froh, dass nichts schlimmeres passiert war. Ich wusste, ich wollte leben. Übrig blieb von diesem Gedanken bloss meine Narbenhaut.

Haut, die verletzt ist, vernarbt. Es gibt dicke und dünnere Narben. Die einen sind tief, die anderen fast unsichtbar.

Im Laufe der letzten Jahre erlebte ich immer wieder, dass sich (männliche) Freunde und Bekannte das Leben genommen haben. Meine Gefühle waren immer ambivalent. Einerseits war da die Trauer, Menschen verloren zu haben, die ich gerne hatte und deren Gesellschaft ich nun vermisste. Andererseits aber kann ich es nachvollziehen, wenn ein Mensch so verzweifelt ist und so starke innere Schmerzen erleidet, dass nur noch das Ende des Lebens Linderung verspricht. Jemand, der niemals an diesem einen, schwarzen Grat angekommen ist, hat keine Ahnung. Das Verurteilen eines Suizids ist grausam und lächerlich.

Vom Sterben auf eigene Kosten

Gibt es ein Recht auf den selbstbestimmten Tod?

Ich war schon als Kind irritiert von dem Gedanken, dass sich jemand einfach umbringt. Eine Schulfreundin von mir fand ihren Vater tot vor. Ich empfand dies als furchtbar gemein.

Jahre später brachte sich mein Kindergartenschatz um. Er wurde von einem Zug überrollt. Ich habe es nie verstanden. Es war für mich ganz und gar undenkbar, dass er, ausgerechnet er, sich so tötet.

Bis dahin empfand ich Suizid einfach als eigene Entscheidung. Niemand oder nur wenige waren in meinen Augen davon betroffen. Ich machte mir wenig Gedanken darüber.

In der Nacht vom 25. auf den 26. Dezember 2006 wurde ich Zeugin eines Suizids. Während ich an der Seite meines damaligen Freundes und seiner Tochter über den Seedamm fuhr, stürzte sich vor meinen Augen ein Unbekannter von der Brücke in den See.

Ich kann nicht beschreiben, wie ich mich fühlte. Ich wurde ganz kalt. Mir war klar, dass jede Hilfe zu spät kommen würde. Wir riefen die Polizei an. Ich musste den Mann beschreiben und später nochmals an die Stelle gehen, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte.

Sie suchten mit Booten nach ihm. Das Licht der Lampen liess Fische springen. Es war ein ganz seltsames Schauspiel in jener kalten Nacht. Die Fische sprangen munter herum, während irgendwo der Leichnam eines Mannes im Wasser trieb. Der Wind peitschte mir ins Gesicht. Den Rest der Nacht konnte ich nicht mehr schlafen. Auch später konnte ich nur noch mit Mühe in jenen Teil des Zürichsees springen. Der Gedanke an die Leiche, die nirgends mehr auftauchte, liess mich nicht los.

Es machte mich wütend, dass ich, ausgerechnet ich, Zeugin wurde. Ich wollte das nicht. Es hat mich nicht traumatisiert, denn ich musste seinen Körper ja nicht aus dem Wasser ziehen und anschauen. Dennoch fand ich es ungerecht.

Als meine Mutter fast ein Jahr später starb, war ich dankbar, dass sie keine Hilfe zum Sterben beanspruchte. Der Gedanke, dass meine Mutter mithilfe eines Medis in einem Auto auf einem verlassenen Parkplatz hätte sterben wollen, wäre unerträglich gewesen. Ich war dankbar für die Art und Weise wie sie starb.

Der Tod eines guten Freundes berührte mich. Er hatte sich ebenfalls umgebracht. Ich blieb mit lauter Fragen zurück. Ich versuche zu verdrängen, dass er nicht mehr da ist, denn sonst würde es mich verrückt machen. Ich versuche an die schönen Zeiten zu denken und wie sehr ich sein Lachen und seine lieben Augen gemocht habe.

Zum Thema Sterbehilfe stehe ich nach wie vor offen. Ich finde, es ist eine Entscheidung, die jeder selber trifft und treffen muss. Dennoch wünsche ich mir Bedingungen für Menschen, seien es schmerzlindernde Medikamente am Ende eines Lebens, eine gute Betreuung im Alter und Unterstützung im Umfeld. All dies kann man nicht gesetzlich regeln. Es liegt uns allen, dass wir mit offenen Augen und Herzen durchs Leben gehen.