Panta rhei.

Am 11. Oktober 2012 startete ich, damals im Thurgau wohnhaft, mit meinem Blog „Demenz für Anfänger“. Ich beschrieb die Reise meiner Omi Paula ins Pflegeheim, hielt Rückschau auf unser familiäres Zusammenleben, unsere gemeinsamen Verluste. Omi und ich erlebten viel in jener Zeit. Sie verfolgte, so lange es ging, was ich schrieb, auch wenn sie nicht immer verstand, was das Internet ist und worum es in unserem Blog ging.

Was sie aber verstand und vor allem tief spürte, war, dass ganz viele Menschen sie ins Herz geschlossen hatten. Sie war eine sehr liebevolle, fröhliche und offene Persönlichkeit. Während ihrer Demenzerkrankung lernte sie viele neue Menschen kennen und konnte sich auch auf sie einlassen.

Mich hat die Arbeit am Blog durch halb Deutschland und ein wenig durch die Schweiz geführt. Als ich über uns schrieb, war Demenz „ein privates Problem“ und man hat mir mehr als einmal nahe gelegt, nicht so offen über unsere Erlebnisse und meine eigene Gefühlswelt zu schreiben. Das hielt mich aber nicht davon ab, über Demenz zu schreiben.

Nun, ziemlich genau 11 Jahre und 1 Buch später beende ich dieses Schreibprojekt. Omi ist mittlerweile über 6 Jahre tot, mein Vater bald 3 Jahre. Mein Leben hat sich stark verändert, ich bin beruflich und privat anders unterwegs. Was mich noch immer mit meiner Familie verbindet, ist unser Haus. Ich nenne es „Paulahaus“, weil sie 30 Jahre lang hier gelebt und den Jahreszeiten und der Kälte getrotzt hat. Hier möchte ich weiter leben, das Leben feiern und mich mit FreundInnen treffen.

Mein Leben nimmt nun weitere, neue Bahnen ein. Gerne werde ich in meinem Blog http://www.meineigeneshaus.wordpress.com darüber schreiben. Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn du mich weiterhin auf meinem Weg begleitest.

Septemberrauschen

Am 2. September 2007 feierte meine Mutter ihren 56. Geburtstag. Sie lebte zu der Zeit bereits im Pflegeheim in Wil und wurde palliativ begleitet. Ich war gerade mal 30 Jahre alt und wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie nicht mehr da wäre.

Ich weiss nicht mehr, ob Omi sie an dem Tag besuchte.
Wie feiert man den Geburtstag eines Menschen, wenn man weiss, dass es sein letzter in diesem Leben ist?
Meine Mutter liess sich von alledem nichts anmerken. Sie genoss ihren Ehrentag. Sie feierte mit Traubensaft und Spaghetti.

Zwei Wochen später würde die Zeit beginnen, die ich als Kind als schreckliche Tage wahrgenommen hatte. Am 17. September war der Geburtstag meines Bruders, drei Tage später sein Todestag. Als ich noch ein Kind war, hatte meine Mutter jeweils versucht, sich an diesen Tagen das Leben zu nehmen. Es war ihr all die Jahre nicht gelungen, weil es vermutlich nicht sein sollte.

Nun sassen wir da, in diesem getäferten Zimmer des Pflegeheims. Sie lebte noch immer, aber nicht mehr lange. Der Tod meines Bruders war nicht mehr präsent. Ihr ging es nur noch ums Leben.
„Ich hätte gerne noch Enkel gehabt“, meinte sie lakonisch.
„Diesen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen“, antwortete ich.

Kinder zu haben war nicht mein Weg gewesen. Ich habe es nicht bereut. Nicht mal in dem Moment, als sie es kurz vor ihrem Tod ansprach. Hätte ich Kinder gehabt, hätte ich vermutlich ihre letzten Monate nicht begleiten können und wollen. Nicht in dem Masse, in dem ich es damals getan hatte.

16 Jahre nach diesem Geburtstag ist mein Leben komplett anders, als ich es damals gedacht und überhaupt je erwartet hätte. Ich bin froh darum, dass alles anders gekommen ist. Dass ich hier lebe, wo ich jetzt lebe, in Omis Haus. Dass ich den Garten habe, den ich zu bändigen versuche und der doch immer wieder grüner und wilder ist als früher.

Ihren Geburtstag habe ich mit Menschen verbracht, in der Natur, im Obertoggenburg. Ich war nicht traurig. Manchmal denke ich natürlich darüber nach, was sie jetzt über mein Leben sagen würde. Vermutlich wäre sie erstaunt. Oder auch nicht.
„Du machst ja eh, was du willst. Du hast, wie ich einen richtigen Mettler-Grind“. Ja. Das auch. Das Denken und Handeln von ihr und meinen Grosseltern mütterlicherseits und das Herz und den Körper der Debrunners, meines Vaters Seite. Eine explosive Mischung.

Ich habe viele Jahre mit ihr gefühlt. Ich glaube, ich habe nach der Erfahrung mit meinem kleinen Bruder früh entschieden, dass ich keine Kinder will und – erst recht kein Kind begraben. Ein Leben für ein Leben. Das ist nicht meine Sache.

Hirschtränke

In ein paar Wochen wird das Grab meiner Mutter Ursula Debrunner aufgelöst. Sie ist 2007 gestorben, damals war ich gerade mal 30 Jahre alt. Nun gilt es nach einer Lösung für ihren Grabstein zu suchen. Ihr Grabstein war mir all die Jahre tatsächlich Trost. Der Bildhauer hat seine eigene Hand in den Rheinstein gehauen als Zeichen dafür, dass über meiner Mutter immer eine beschützende Hand ruht.

Mein Nachname Debrunner bedeutet „Hirschbrunnen“ oder Hirschtränke. Der Hirsch ist quasi Teil unserer DNA. Mein Vater ist jetzt bald 3 Jahre tot. Er stammte aus Wetzikon TG, einem Ort mit vielen Wäldern und gefühlt grosser Dunkelheit.

Im Sommer 2023 traf ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einen Hirsch. Für mich war das eine der schönsten Begegnungen in meinem Leben.

Ich wurde nur auf den Hirsch aufmerksam, weil ich während der Jagd das Schrecken eines Rehs hörte und das über längere Zeit. Ich bewegte schliesslich mich langsam in dem Gelände fort, weil ich nicht wusste, was mich erwarten würde und weil ich unbedingt wissen wollte, was da los war.

Als erstes erblickte ich die Rehgeiss, die laut und klar mitten auf der Wiese ihren Unwillen klar tat, dass da ein Hirsch stand. Sie bellte ihn an. Er liess sich nicht davon stören. Ich sah ihn und mir stiegen die Tränen in die Augen. Er war wunderschön, stolz und gross. Er stand einfach da und äste, blickte mich und wieder an und liess sich nicht von mir oder irgendwem stören. Ich hatte bis anhin noch nie ein derart grosses Tier in freier Wildbahn gesehen. Ich setzte mich auf jene Wiese über der Stadt hin. Ich kostete jeden Augenblick unserer Begegnung aus. Irgendwann wurde es dunkel und er zog sich zurück in den Schutz des Waldes und ich ging meines Weges.

Was bleibt ist die Erinnerung an jenes wundersame Tier, ein paar Fotos und mein Gefühl, wie wunderbar behütet ich mich fühlte, wie sehr ich ein Teil der Natur war, wie tröstend diese Begegnung war.

Auf ein Neues!

Geburtstag feiern ohne meine Eltern fällt mir schwer.
Geburtstage waren immer ein besonderer Feiertag, Tage an denen man sich trifft und freut, dass der andere da ist. Zurückdenken an die Geburt, Dankbarkeit, Zärtlichkeit und Anekdoten.

Meine Omi hat meinen Geburtstag immer besonders zelebriert. Es gab Torte, Geschenke und viele Umarmungen und Küsse. Am Schluss ihres Lebens hat sie zwar nicht mehr immer gewusst, wer ich bin, aber den Tag hat sie im Gedächtnis behalten. Der war wie eingebrannt.

Ich verstand erst viel später, dass wir mit den Geburtstagsfeiern das Leben zelebrierten. Dankbar waren für alle, die (über-)lebten. Verbundenheit im Dasein.

Den Geburtstag meines Bruders Sven, der knapp zwei Jahre nach mir geboren wurde, feierten wir nicht. Sein Tod wiegte schwerer als sein Dasein für drei Tage. Auch heute noch verbinde ich mit dem 20. September 1979 ein Gefühl der tiefen Trauer und Verzweiflung.

Ohne meine Eltern ist Geburtstag anders. Sie fehlen mir sehr.

Vor vielen Jahren begannen mein Vater, seine Frau – und später auch ich – damit, den Geburtstag mit Freunden und der Familie zu feiern. Das war schön und ich fühlte mich mit ihnen verbunden. Ich war immer sehr stolz, wenn sie am Geburtstag zu mir kamen und wir ein paar Stunden feierten.

Feiern bedeutete in meiner Wahrnehmung, dass wir zusammen sassen, redeten und den Moment genossen. Das ist im Sommer etwas anders als im Winter. Der Geburtstag meines Vaters, am 19. Februar 2020 war das letzte Fest für lange Zeit, das wir feierten.

Als mein Vater nicht mehr in unser Haus gehen konnte, weil zuviele Treppen da waren, war ich unglücklich. Wir feierten den Geburtstag einfach auswärts und barrierefrei. Aber ich ahnte auch, dass unsere gemeinsamen Tage abgezählt waren, dass wir nicht mehr so oft zusammen sein würden wie bisher. Dieses Gefühl des baldigen Verlusts hat mich sehr traurig gemacht.

Das Pandemiejahr 2020 war rückblickend schrecklich. Ich hatte mich innerlich zurückgezogen und es ging mir sehr schlecht. Ich wusste, ich würde meinen Vater auch bald betrauern. Ihm nicht helfen zu können bei seiner Erkrankung, seinem schweren Leiden.

Vieles hat sich seither gewandelt. Seit mein Vater im November 2020 starb, bewege ich mich anders durch mein Leben. Manchmal scheint mir, als würde ein Teil fehlen, dann wieder spüre ich, wie ich weitergehe, ohne ihn, und es auch gut ist. Das Leben ist nun anders, seit er nicht mehr lebt.

Oftmals würde ich gerne wissen, was er über mein jetziges Leben denkt. Dass ich das tue, was keiner bisher in unserer Familie gemacht hat. Die Reaktion kann ich mir schon vorstellen. Er wäre stolz, würde es dezidiert und sehr pointiert zur Sprache bringen: „Da het sie nöd vo mir.“

Ich denke sehr oft an ihn, besonders wenn ich glücklich bin und das ist nicht selten. Ich frage mich oft: was würde Papi dazu sagen?
Ich weiss aber auch, dass er gar nicht gewollt hätte, dass ich in irgendeiner Art schwermütig wäre. Das Leben ist ein Kreislauf. Wenn ein Baum gefällt wird oder im Sturm umstürzt, wächst etwas Neues.

Auf ein neues Lebensjahr!

Liebe und Verlust

Es ist so eine seltsame Sache mit der Trauer. Manchmal lässt sie einen in Ruhe, dann wieder haftet sie an einem wie eine Klette oder ein Koala an einem Baum.

Vor 12 Jahren hatten wir gemeinsam die Krähe ausgewildert.
Papi hatte sich als Kind mit einer weissen Krähe angefreundet, die zahm war oder gezähmt wurde. Die Geschichte begleitete mich meine ganze Jugendzeit. Was mein Vater sagte, musste wahr sein.

Ich weiss bis heute nicht, ob sie wirklich weiss war oder weisse Federn hatte. Ob sie wirklich zahm war oder eben nicht. Aber als Kind spielte es für mich keine Rolle, ob die Geschichte sich wirklich so zugetragen hatte.

Fest steht, dass uns beiden das Talent, mit Vögeln umzugehen, in den Genen liegt. Papi konnte mit Hühnern sprechen. In seiner Gegenwart wurden sie ruhig. Als Kind wünschte ich mir, mit unseren Hühnern im Zirkus aufzutreten. Mein Vater züchtete damals Seidenhühner. Das sind wunderbare, grosse Hühner. Stolz und sehr liebenswürdig, wie alle Hühnervögel.

Ich vermisse meinen Vater natürlich an Weihnachten und Ostern. Aber am meisten fehlt er mir im Sommer, um meinen Geburtstag herum. Manchmal, wenn ich an heuenden Männern vorbei fahre – und die gibt es hier oben wie Sand am Meer – weine ich einfach, weil sie mich an ihn erinnern.

Vor einigen Tagen war ich auf dem Bodensee unterwegs. Ich liebe den See, seine Weite. Im Sommer, meist nach meinem Geburtstag, machten wir, Vater, seine Frau, Sascha und ich, ab für unsere Familien-Schifffahrt mit der Schifffahrtsgesellschaft Untersee und Rhein. Wir reisten jeweils mit dem Schiff von Kreuzlingen nach Schaffhausen und wieder zurück. Bei Diessenhofen freuten wir uns alle auf den Moment, wo das Dach des Schiffes gesenkt wurde. Vor Büsingen wunderten wir uns über all die Nacktbader. Diese Reise dauerte jeweils von elf Uhr morgens bis acht Uhr abends. In meiner Erinnerung sassen wir immer am gleichen Platz. Oberdeck. Jeder vor einem Mineralwasser oder einem Rivella.

Mein Papi fand immer jemanden, mit dem er ein interessantes Gespräch führen konnte. Das bewunderte ich immer sehr. Die letzte Schifffahrt, ich glaube, wir machten sie vor fünf Jahren, bleibt mir in besonderer Erinnerung. Mein Vater ging bereits am Stock und es war uns allen ein Rätsel, warum er plötzlich Mühe mit Gehen hatte. Ich parkierte mein Auto auf einem Parkplatz beim Hafen, er öffnete schwungvoll die Türe und – stiess damit gegen die Türe eines türkisfarbenen Fiat. Die Besitzerin des Autos tickte aus und beschimpfte ihn und uns alle, weil wir nicht verhindert hatten, dass mein behinderter Vater ihr Auto beschädigte.

Vielleicht wurde mir damals klar, dass etwas nicht mehr gut ist. Sie behandelte meinen Vater, als wäre er ein Vollidiot. Er war den Tränen nahe, sehr beschämt. Während der Schifffahrt waren wir alle bedrückt. Ich sinnierte darüber nach, dass ich am besten die Polizei gerufen hätte. Aber damit hätte unsere Reise nicht stattfinden können. Ich lernte meine Lektion, wie Menschen in der Schweiz behandelt werden, wenn sie eine Beeinträchtigung haben.

Die Beziehung zwischen meinem Vater und mir war eine andere, als die zwischen meiner Omi und mir, oder die zwischen meiner Mutter und mir. Bereits in der Grossmutter sind Eizellen vorhanden, die sie irgendwann an ihr Kind, ihre Tochter und später ihre Enkelin weiter geben wird. Das verbindet.
Mein Vater war mir immer nahe. Wir sind einander wie aus dem Gesicht geschnitten. Was für ein Ausdruck. Es fühlt sich ja auch so an, jetzt wo er nicht mehr lebt. Er ist mir aus dem Herzen geschnitten, aber nicht aus meinen Gedanken.

Als ich vor ein paar Tagen einen Vogel am Bach beobachtete, und ihn zuordnen konnte – es war eine Gebirgsstelze – war mein erster Gedanke: ich muss ein Foto machen und es Papi schicken. Hören, was er dazu meint. Natürlich tat ich das nicht. Denn dort, wo er jetzt ist, braucht er kein Telefon mehr.

Der Hühnerflüsterer

Mein Vater war ein Hühnerflüsterer. Er liebte Vögel sehr.
Er züchtete Hühner, Enten und Tauben.
Er bewunderte diese gefiederten Lebewesen und gab mir diese Liebe weiter.

Wenn er sich zu ihnen setzte, kamen sie einfach, wurden ruhig, und liessen sich von seinen grossen Händen streicheln.

Ich wuchs als seine Tochter mit Vögeln auf. Die Hühner waren mir die liebsten. Ich mochte es, dazusitzen, und ihre Schnäbel auf meinen Händen zu spüren, wenn ich ihnen Körner zum Fressen hinhielt. Er züchtete, als ich elf oder zwölf Jahre alt war, Bartzwerge, Wyandotten und Seidenhühner. Die Bartzwerge und die Seidenhühner mochte ich am liebsten. Sie waren handzahm und ich redete mit ihnen, gab ihnen Namen.

Berta, ein stolzes Seidenhuhn, war mein liebster Vogel. Leider gibt es keine Fotos, wie ich sie umarme und überglücklich an mich drücke. Ihr Gockel, ein ebenso stolzer Hahn, ich nannte ihn Jonathan und Berto, hatte sie und die anderen Hühner des Hofes vor einem Rottweiler beschützt. Der Hund war wie ein blutrünstiger Irrer über unsere Tiere hergefallen und zerriss einige unserer Hühner in der Luft. Ich war starr vor Angst. Meine Mutter stürzte nach draussen und zog mich ins Haus. Sie hatte Angst, dass der Hund auch auf uns Kind losgehen würde. Vom Balkon aus sah ich mit, wie der Hund unsere Tiere tötete. Doch Jonathan stellte sich ihm in den Weg und griff ihn an. Der Hund liess schliesslich ab und rannte davon.

Jonathan bezahlte seinen Heldenmut mit dem Verlust einer Kralle, die ich später im Gras fand. Jonathan lebte danach noch viele Hühnerjahre.

Aber auch später, als Papi längst seinen Hühnerstall an einem anderen Ort aufgebaut hatte, war ich oft bei ihm und spielte und redete mit seinen Hühnern. Ich mag ihre Ruhe und ihre konzentrierte Aufmerksamkeit. Ihren Blick, wenn sie uns Menschen und das Umfeld taxieren, immer in Erwartung von Fressfeinden. Ich mag aber noch mehr ihre Ruhe, wenn sie sich wohl und sicher fühlen. Ich mag ihr warmes Gefieder, ihre Augen und die Schnäbel, ihre echsenhaften Beine, ihre Krallen und ihr zartes Federkleid.

Die Erinnerung an meinen Vater wird vermutlich immer mit den Hühnern, die längst nicht mehr da sind, verbunden sein.

Wurzeln

Am Freitag habe ich – mit etwas Verspätung – die Gräber meiner Mutter und meiner Grossmutter neu gestaltet. Das tue ich immer im Frühling, gerne um den Geburtstag meiner Omi, am 6.5.

Dieses Jahr habe ich das letzte Mal das Frühlingsgrab meiner Mutter neu gemacht. Am 17.10.2007 ist sie gestorben, bald wird ihr Grab aufgehoben. Die Gräber links neben ihrem sind bereits vor einem Jahr verschwunden.

Meine Mutter wollte nie ein Grab, dass sie eines bekam, ist meiner Oma geschuldet, die einen Ort brauchte, wo sie um ihre Tochter trauern konnte. Wir fanden es in Lichtensteig, wo Omi bis 2012 lebte.

Vor vielleicht 14 Jahren habe ich Tulpenzwiebeln auf Mamis Grab gepflanzt. Gestern habe ich die Zwiebeln ausgegraben und mit nach Hause genommen. Ich möchte sie gerne in unserem Garten pflanzen.

Wenn ihr Grab verschwindet, verschwindet auch ein weiterer Hinweis, das sie jemals gelebt hat. Dann existiert sie nur noch in meiner Erinnerung.

75

Heute wäre Papis 75. Geburtstag.

Als Kind lebte ich in dem Gedanken, dass mein Vater sehr alt werden würde. Er wäre weisshaarig, hätte einen langen weissen Bart und würde an einem Stock gehen. Er sähe ein wenig wie Dumbledore aus, würde reisen und Sport treiben und sein Leben geniessen.

In Wirklichkeit war er 72 Jahre alt, als er starb. Er hatte weissgraue Haare, einen Bart und vor allem einen Körper, der ihm nicht mehr gehorchte.

Sein 72. Geburtstag war unser letztes, gemeinsames Familienfest. Vor der Pandemie, den Shutdowns.

Sein Tod ist für mich ein wunder Punkt. Ich schlage mich mit Verlustgefühlen herum. Ich hätte gerne noch mehr Zeit mit ihm verbracht. Ich hätte gerne mit ihm gemeinsam Vögel gepflegt, gerne mehr von ihm gelernt und von seinem Wissen profitiert, das mit ihm gestorben ist. Ich vermisse seine Umarmungen. Seinen Trost. Sein ruhiges Dasein. Ich vermisse seine Tränen. Seine emotionalen Momente in den letzten Monaten seines Lebens.

Mein Vater hatte sehr viel Gewalt in seinem Leben erlebt. Sein Vater war ein harter, verbitterter Mensch, ein Bauer. Er war ein Mann, der mit fast 40, nach dem Krieg zum ersten Mal Vater wurde. Der vermutlich lieber eine Tochter als zweites Kind gehabt hätte. Seine Mutter war liebevoll, aber auch depressiv. Das Elternhaus war typisch thurgauisch protestantisch, ja sogar calvinistisch. Das prägte ihn ein Leben lang. Diese Mischung, bestehend aus unbändigem Fleiss, Gehorsam, Dankbarkeit, Selbstdisziplin, Sparsamkeit und Genügsamkeit hat ihn immer begleitet. Und vermutlich ist diese auch auf mich übergegangen. Dahinter steht der Gedanke, dass man dadurch einmal in den Himmel kommt. Das amüsiert mich sehr, denn weder ich noch mein Vater waren jemals gläubig.

Dem Verlust stehen jede Menge Erinnerungen gegenüber. Unsere Gespräche in seinem Kaninchenstall in Hüttwilen, unsere Telefonate während ich von Weinfelden aus ins Toggenburg fuhr. Unsere Ausflüge und Gespräche im Auto, Zug oder auf dem Schiff nach Schaffhausen. Erinnerungen an Theaterbesuche, Kinos und Filme im TV.

Mein Vater war mir sehr nahe. Er war, nach meiner Mutter, der erste Mensch in meinem Leben, der mich in die Arme genommen hat. Der mich geliebt und gefördert hat. Er war es, der mit mir gemeinsam die Urne meiner Mutter auf den Friedhof gefahren hat.

Durch ihn kam ich mit Themen in Verbindung, die ich zuvor anders wahrgenommen hatte, ganz gleich, ob sich es um Barrierefreiheit, den Wolf oder Landwirtschaftssubventionen handelte. Pauschale Urteile haben ihn wütend gemacht.

Seinen Geburtstag werde ich in der warmen Stube, am Laptop verbringen und arbeiten. Das hätte ihm bestimmt gefallen. Happy Birthday, Papi!

Von bunten Farben und der Pinkfalle

Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter ein Babykleidchen in Gelb in einem Schaufenster so schön gefunden hat, dass meine Omi es gekauft hat, Das war einige Zeit vor meiner Geburt. Ich weiss nicht mal mehr, wie dieses Kleidchen ausgesehen hat und ob es noch immer in jener Kiste ist, die ich von meiner Mutter geerbt habe.

Als kleines Mädchen hatte ich jede Menge Barbies in pinken Kleidchen. Die mochte ich wirklich sehr gern, weil sie so schön waren. Pink wurde nicht zu meiner Lieblingsfarbe in jenen Jahren. Blond nicht zu meiner Lieblingshaarfarbe.

Es gab tatsächlich eine Phase in meinem Leben, wo ich gerne ein Junge gewesen wäre. Ich wünschte mir, all die Trauer um meinen Bruder wieder gut zu machen. Ich wäre verdammt gerne ein mutiger Junge, ein braver Sohn für meine Eltern gewesen. Ich hätte sehr gerne jene eine Lücke in ihrem Leben ausgefüllt, weil ich gespürt habe, wie sehr sie ihn geliebt hätten. Aber das war keine Sache von Farben. Keine Macht der Welt hätte meinen Eltern meinen Bruder zurückgegeben, ganz egal, welche Farbe ich als älteste Tochter getragen hätte.

Jahrelang hatte ich weiss vor Augen, wenn ich an meinen toten Bruder dachte. Weiss ist die Farbe der Trauer und ich mag sie nicht besonders.

Als ich neun Jahre alt war, wurden grün und braun zu meinen Lieblingsfarben. Damals war ich unsterblich in Robin Hood verliebt und ich konnte mir gar nicht vorstellen, nicht wie ein Baum oder ein Gebüsch herum zu laufen. (Diese Liebe hält bis heute an. Grün ist meine absolute Lieblingsfarbe). In den 80er Jahren kam es allerdings eher schlecht an, wenn sich ein (gehbehindertes) Mädchen einen männlichen, englischen Volksrebellen als Vorbild nahm.

Irgendwann Ende der 90er war tiefblau meine Lieblingsfarbe. Yves Saint Laurent hätte seine helle modische Freude an mir gehabt.

Mitte der 2000er Jahre war meine Lieblingsfarbe schwarz. Und dunkelgrau. Das bewegte meine Mutter zu dem Satz: „Ich bi im Fall no nöd tot, gäll?“ Ich konnte mich nur schwer von schwarz trennen, weil ich sie die schönste der Nichtfarben betrachte.

Seit ihrem Tod wagte ich mich an farbigere Kleidung. An Gelb. Blau. Grün. Rot. An Schmuck. Je bunter desto besser. Ich wurde langsam selbstbewusster und mutiger, was meine Kleiderwahl anging.

Vor drei Jahren hatte ich keine Freude mehr an gefärbten Haaren. Ich musste an das ergraute, feine Haar meines Vater denken. Daran, wie lockig und ungezähmt meine Haare sind. Ich hörte also auf mit Anfang 40 meine Haare zu färben. Ich lasse sie wachsen. Die weisse Locke, die seit dem Tod meiner Mutter aus mir herauswächst, ist sichtbar, wenn man sie sehen will.

Der Japaner, Charles Darwin und Papis grosser Triumph

Vor über 40 Jahren erschien „Das Gelbe Heft“ mit diesem einen Cover: Das Kaninchen auf dem Titelbild ist ein sogenannter „Japaner“ und stammte aus der Zucht meines Vaters. Der war 1982 gerade mal 34 Jahre alt und ein versierter Kaninchenzüchter. Ich erinnere mich nur noch dunkel an jene „Japaner“ im Kaninchenstall meines Vaters. In meiner Erinnerung sind sie wunderschöne, stolze Tiere.

Die Japaner kamen von Frankreich aus Ende des 19. Jahrhunderts in die Schweiz. Friedrich Karl Dorn schreibt 1989 über das Japanerkaninchen: „Seine Entstehung ist völlig unbekannt und es ist zwecklos, über seine Herkunft irgendwelche Vermutungen anzustellen und Konstruktionen zu entwickeln. Fest steht allein, dass wir über das Werden dieser Rasse nichts wissen.“
Des weiteren schreibt er: „Es ist ebenso ungeklärt, welcher Spaßvogel den Namen der Rasse ersann und welchen Grund er hierfür hatte.“

Warum mein Vater sich damals genau für diese Art Kaninchen entschieden hat, werde ich wohl nie erfahren. Sehr gerne würde ich mit ihm darüber diskutieren. Ich bin mir sicher, ich würde dazu einige sehr interessante Anekdoten von ihm hören.

Mein Vater züchtete seit frühester Jugend Kaninchen. Manchmal denke ich, dass diese Leidenschaft und der soziale Umgang im Verein ein Ersatz für sein eher kühles Elternhaus war. Ich erinnere mich an viele schöne Abende mit anderen Kaninchenzüchtern und ihren Familien, an Lachen und gutes Essen.

All die Jahre danach hat mein Vater sehr erfolgreich Kleinsilberkaninchen gezüchtet. Mit grossem Erstaunen las ich vor einigen Tagen, dass bereits Charles Darwin diese Kaninchen gekannt und über sie geschrieben hat.

1989 gewann Papi mit seinem Kleinsilber-Kaninchen einen grossen Preis an der Ausstellung in Bern. Ich war damals gerade 11 Jahre alt. Den Champion, so hiess der Chüngel, habe ich sehr gemocht. Er war anders, als andere Kaninchen, handzahm und ich konnte ihn streicheln. Heute zeugt nur noch ein Foto von ihm, das bei uns im Gang steht, davon, dass es ihn mal gab: das schönste Kaninchen der Schweiz.

Papis Leidenschaft, Kaninchen zu züchten hat sich mir leider nie erschlossen. Meine Liebe, meine Leidenschaft galt immer den Vögeln, die auch er sehr gemocht hat.

Mein Vater hat bis einige Jahre vor seinem Tod als Präsident des Silberkaninchenklubs gewirkt. Diese Tätigkeit war ihm sehr wichtig und sie hat ihm grosse Freude bereitet. Nach seiner Pensionierung ist er immer wieder mit seiner Frau quer durch die Schweiz gereist, hat viele Menschen kennengelernt und bestimmt viele Kaninchen gestreichelt. Seine schwere Erkrankung hat ihn hier voll ausgebremst. Es tut mir noch immer weh, ihn einige Monate vor seinem Tod bei seinen Kaninchen zu sehen. Er war stark eingeschränkt in seiner Bewegung, mit klarem Willen und grosser Trauer, im Wissen, was ihn erwartet. Erst heute wird mir bewusst, welcher Schatz von Erfahrung und Wissen mit seinem Tod verschwunden ist.